Wenn die Bahnreise zum Abenteuertrip wird 2

Wenn die Bahnreise zum Abenteuertrip wird

Es gibt Schicksalsgemeinschaften, denen kann man nicht entfliehen – und ich fliehe wirklich gern, sobald es zu eng wird.

Wenn die Bahn allerdings beschließt, an einem Freitag zur Rushhour den ursprünglichen Zug um die Hälfte der Waggons zu kürzen und trotzdem – weil ja gar nicht anders möglich – alle Leute mitzunehmen, dann wird’s wirklich verdammt eng. Und lustig, wenn der Zugbegleiter dann noch durchsagt, man möge die Rettungswege bitte freihalten, während sich auf den kofferüberfluteten Gängen diejenigen, die stehen müssen, übereinanderstapeln und sich dabei mit ihren Rucksäcken in den Nacken rammen.

Trotzdem findet eine Mitreisende noch Gelegenheit, in aller Seelenruhe zu telefonieren – hakuna matata. Und zwar in ihrer Muttersprache, vermutlich mit einer Schwester, denn man hat sich viel zu erzählen in dem Moment. Ein Gespräch, das nun alle mitverfolgen, ohne ein Wort zu verstehen. Irgendwann dann doch das Ende des Telefonats. Allerdings fällt der Dame nach zwei, drei Sekunden ein, dass sie auch noch eine Schwägerin hat, die ebenfalls lange kein Lebenszeichen von ihr erhielt. Was die beiden kurz darauf besprechen, scheint eine heikle Angelegenheit zu sein – zumindest angesichts der Lautstärke, mit der nun an beiden Enden in die Leitung geschrien wird.

Über allem ein heulendes Baby, das den Lärm der diskutierfreudigen Damen vermutlich auch nicht mehr erträgt. Was wiederum ein Kleinkind am anderen Ende des Waggons ermutigt, es ihm gleichzutun.

Dann die nächste Durchsage.

Die Bekanntgabe eines Bahnhofs kann es kaum sein – so, wie sich der ICE hier im Schneckentempo vorwärtsbewegt. Diesmal also nur der Hinweis, dass leider alle Toiletten an Bord defekt sind. Dazu die dringende Nachfrage, ob sich unter den Passagieren vielleicht ein Arzt oder eine Ärztin befinde, da ein Gast in Waggon 2 dringend Hilfe benötige. Kein Wunder bei der stickigen Luft, denke ich.

Für die beiden Frauen vor mir jedoch kein Grund, sich zu erheben und Richtung Waggon 2 durchzuquälen. Zwar würde die soeben durchgegebene Beschreibung auf sie passen – so die eine mit Blick auf die verstopften Gänge –, aber es gäbe ja sicher noch weiteres Fachpersonal unter den übrigen Gästen. Da müsse sie jetzt nicht auch noch losstürzen. Und außer dem Hinweis, immer am besten einen RTW zu organisieren, könne sie ohnehin nichts machen.

Zwei Reihen hinter ihr erhebt sich eine Frau – offensichtlich in der Absicht, sich trotzdem durchzuschlagen. „Ich bin zwar nur Krankenschwester“, ruft sie entschuldigend, um sich den Weg zu bahnen, „aber lassen Sie mich bitte durch, vielleicht kann ich ja helfen.“

Toller Einsatz, denke ich noch, und überlege, was dem Ärmsten am anderen Ende des Zuges wohl fehlt. Und tatsächlich wird es etwas Ernsthaftes sein, da wir beim nächsten Bahnhof unplanmäßig eine halbe Stunde länger verbringen, um auf einen Rettungswagen zu warten.

Auch mir wird heiß. Und etwas schwindlig. Vermutlich die Nachwehen meines Sprints vorhin am Bahnhof, als ich versuchte, den Zug überhaupt zu erwischen. Vor ihm hatte ich nämlich schon zwei Umstiege – und jedes Mal so eine Sprint-Einlage. Denn mit der Verspätung vorheriger Züge rechtzeitig seinen Anschluss zu schaffen, ist nichts für schwache Nerven. Vor allem, wenn es an solchen Tagen ums Erreichen eines wichtigen beruflichen Termins geht. Da laufe selbst ich mal doppelt so schnell.

Jetzt, hier im Abteil gelandet, folgt gleich der nächste Adrenalinstoß: Ein Knirps aus der stehenden Traube neben mir greift mit seinen Schokoladenhänden nach dem Bildschirm meines Laptops, um sich in letzter Sekunde daran festzuhalten. Ich mache ihm keinen Vorwurf. Unser ICE nimmt gerade einen heftigen Bogen, und der Junge schwankt wie auf den Planken eines in den Sturm geratenen Schiffs. Ohne den schnellen Griff nach meinem Computer hätte er die Wackelei kaum ausgleichen können. Ich aber packe zum Glück ebenso geistesgegenwärtig zu – und halte beide: mein Gerät und den Jungen.

Dann krame ich genervt nach einem Taschentuch, um die Schokofinger von meinem Desktop zu entfernen – komme aber nicht an meine Handtasche heran. Die klemmt unter dem Koffer, der direkt unter meinem Sitzplatz steht. Der wiederum musste dorthin, um den stehenden Passagieren, die sich in die Gepäckablagen hineindrücken, ein wenig Platz zu schaffen. Damit lagert er jetzt allerdings derart ungünstig für meine Beine, dass ich nach vier Stunden in dieser Haltung als Fragezeichen sicher Rückenschmerzen bekomme. Über die Geschmeidigkeit einer Schlangentänzerin verfüge ich nun mal nicht.

Wobei ich nach aktuellem Stand bezweifle, dass es bei den vier Stunden Reisezeit bleibt. Wie war das gleich? Die Bahn nennt es Fahrplan. Ich nenne es liebevoll „unverbindliche Abfahrtsempfehlung mit Gleisvorschlag“.

Ja, verrückt, denke ich: Früher – ganz früher – ist man wirklich mal mit dem Zug gereist, um entspannter anzukommen. Und natürlich der Umwelt zuliebe! Heutzutage betet man, dass man angesichts solcher Reisesituationen bloß nicht auf Toilette muss.

Ich will mich ablenken – und zum Glück habe ich Kopfhörer dabei, sogar griffbereit. Also rein mit den Dingern, Musik an – doppelt so laut.

Manchmal ist die Welt eben nur mit Soundtrack zu ertragen.

Nach oben scrollen