Deutschland, deine Wartezimmer 2

Deutschland, deine Wartezimmer

„Ich habe mittlerweile Angst um meine medizinische Versorgung in diesem Land.“

Das sagte kürzlich mein Sitznachbar im Wartezimmer. Er erschien wiederholt in der Akutsprechstunde unserer Allgemeinärztin, weil er mit dem Bittstellen um einen Facharzttermin einfach nicht weiterkommt. Noch immer plagen ihn anhaltende Beschwerden in Lunge und Brust, die ihm große Sorge bereiten. Doch den nächsten Termin beim Kardiologen bekäme er laut Praxisschwester am Telefon in sechs oder sieben Monaten – eine Auskunft für die er sich zuvor zwei Stunden durch diverse Warteschleifen mit KI-Ansage quälen musste („Bitte bleiben Sie in der Leitung – Ihre Gesundheit ist uns wichtig“) und die ihn erneut verzweifeln lässt. Wie vermutlich unsere Hausärztin, die er abermals um Rat fragen wird. Natürlich erst, sobald die das volle Wartezimmer vor uns abgearbeitet hat.

„Inzwischen muss man mit einer Ärztin verheiratet sein oder selbst Mediziner, wenn man mit seiner Gesundheit noch gut versorgt sein will.“

Er schüttelt den Kopf, und ich sehe gleichzeitig Angst, Wut und Ohnmacht in seinem Blick. Vermutlich hätte ich früher gedacht, dass er übertreibt. Dass es nun wirklich andere Länder gibt, über die man so etwas mit Fug und Recht sagen kann. Mittlerweile habe ich jedoch mehrere Jahre als pflegende Angehörige in den Knochen. Bin Betreuerin für zwei betagte, chronisch kranke Elternteile. Außerdem Mutter mit weiteren erkrankten Familienmitgliedern nebst Vollzeitjob. Und so muss ich leider sagen: Er übertreibt nicht. Denn ohne mein zusätzliches, engmaschiges Kümmern, Diskutieren, Kämpfen und stures Begleiten würden meine sowohl körperlich als auch kognitiv geschwächten Eltern auch weiterhin frierend und ohne nennenswerten Arztkontakt 8–10 Stunden in der Notaufnahme liegen. Sie würden aus dem Krankenhausbett herausfallen, ohne dass es jemand bemerkt. Kaum Auskünfte von behandelnden Ärzten erhalten, die selbst ständig unter Zeitdruck stehen. Mittlerweile bin ich daran gewöhnt, dass in den Computersystemen der Kliniken meine Telefonnummer als Ansprechpartnerin regelmäßig verloren geht und so teile ich neuerdings handbeschriebene Zettel an Ärzte oder Schwestern aus. Leider ist es auch keine Seltenheit, dass meine durchs lange Liegen geschwächten Eltern am Entlassungstag angesichts vieler Neuzugänge aus dem Zimmer herausgeworfen werden – sie dabei in Panik und Weinen ausbrechen, während ihre Krankenkassenkarte nicht mehr auffindbar ist …

Ja, in den vergangenen Jahren habe ich öfter gedacht: Jetzt liefere ich mich selbst mit ein! Doch die Angst vor Unterversorgung durch das fehlende Personal hat mich abgehalten – und so bleibt das auch, solange ich den Kopf nicht unter dem Arm trage. Denn ich weiß:

Der wahre Kampf beginnt nicht mit der Krankheit – sondern mit dem System, das heilen soll. Längst braucht man Glück oder Beziehungen, um hier krank werden zu dürfen. Wer keinen Fürsprecher hat, geht im Wartezimmer des Systems unter.

Also nein, der verzweifelte Mann neben mir übertreibt nicht und offensichtlich hat er keine Tochter oder andere Verwandte, die ihn beim Kampf durch den Behandlungsdschungel unterstützen können. Vor allem wenn später noch der komplizierte Behördenkram beim Beantragen von Pflegestufen, Versorgungsverträgen oder die Suche nach einem Altenheim dazukommt.

Und nein, das ist mir wichtig zu sagen: Schuld an dem Kollaps in unserer Versorgung sind NICHT die dennoch bemühten Pfleger, Krankenschwestern und Ärzte/Ärztinnen. Schuld ist das gegenwärtige SYSTEM, das trotz weiterer Überalterung der Gesellschaft und Explosion unserer Krankenkosten auf keiner dringlichen Agenda steht. Also einer, die die richtigen Schalthebel umlegt. Zum Beispiel für eine stärkere Vorsorge, um Krankheiten zu vermeiden. Und für eine Medizin, die ermöglicht, dass Patienten als Menschen behandelt werden können, statt als Fallpauschale. Krankenhäuser als Wirtschaftsunternehmen und Ärzte, die gezwungen werden, sich vorher durchzurechnen, in welchem Umfang es sich lohnt, dem Patienten Aufmerksamkeit zu schenken – das funktioniert nicht.

Noch eine Weile beobachte ich den blassen Mann neben mir, und plötzlich begreife ich den unfassbaren Erfolg einer Fernsehserie wie „Der Bergdoktor“, denn das intensive Kümmern eines Arztes, das wir dort in jeder Folge mitverfolgen können, wird zum kostbaren Rosamunde-Pilcher-Moment fern vom Alltag. Doch, wenn ich es recht bedenke, ist genau das verdammt traurig für ein Land, wie das unsrige:

Der tiefer Wunsch nach einem ebenso freundlichen wie engagierten Arzt mit ausreichend Zeit für die Lösung unseres Problems lediglich als „Utopie“ auf der Mattscheibe?

Nach oben scrollen