„Es ist an der Zeit, auch über das Leid der deutschen Zivilbevölkerung zu sprechen“ 2

„Es ist an der Zeit, auch über das Leid der deutschen Zivilbevölkerung zu sprechen“

Am 8. Mai jährt sich das Ende des Zweiten Weltkriegs zum 80. Mal. In den vergangenen Jahrzehnten haben wir – zu Recht – den Fokus vor allem auf die von Deutschland verursachten Gräueltaten und das unermessliche Leid der Opfer gelegt. Die millionenfache Ermordung jüdischer Menschen, die Zerstörung zahlloser Leben und Kulturen: All das durfte und darf niemals relativiert werden. Verständlicherweise war lange kein Raum dafür, über das Leid der deutschen Zivilbevölkerung zu sprechen. Zu sagen: „Auch Deutsche haben gelitten“ – das galt als unangemessen, beinahe als Tabubruch.

Doch mit der Zeit veränderte sich der Blick. Zunehmend wurde deutlich, dass es auch unter den Deutschen Leidtragende gab – insbesondere unter jenen, die durch Flucht, Vertreibung und Krieg schwer gezeichnet wurden. Und heute, mehrere Generationen später, erkennen wir: Viele der damals erlittenen Traumata wirken bis in unsere Gegenwart hinein – weitergegeben an Kinder und Enkel. Unausgesprochen, aber tief verankert.

In meinem aktuellen Buch „Bis ans Meer“ widme ich mich diesen ererbten Wunden. Was mich besonders berührt: Bei meinen Lesungen sprechen mich regelmäßig junge Menschen an – oft gerade 18 Jahre alt. Sie interessieren sich für diese Geschichten, stellen Fragen, wollen verstehen. Ehrlich gesagt hatte ich gedacht, dass dieses Thema für ihre Generation zu weit entfernt sei. Doch ich habe mich geirrt. Viele von ihnen verspüren eine Verbindung zu ihren familiären Wurzeln, auch wenn sie ihre Urgroßeltern kaum oder gar nicht mehr kennengelernt haben. Einige berichten mir, dass sie gemeinsam mit ihnen deren einstige Heimat besucht haben – etwa in Schlesien. Intuitiv haben sie erkannt, wie wichtig Heilung ist. Denn nur wer sich seiner Vergangenheit stellt, kann verhindern, dass altes Leid unbewusst weitergegeben wird und neues Leid entsteht.

Gerade im Osten Deutschlands erleben wir, wie tief die seelischen Spuren der Geschichte reichen. Dort folgten auf die Katastrophe von 1945 weitere traumatische Einschnitte für die Menschen: die Teilung des Landes, die nächste Trennung von ihren Familien durch die Mauer, das politische Schweigen über Flucht und Vertreibung – in der DDR kurzerhand als „Umsiedlung“ umgedeutet. Nach 1989 kam es schließlich erneut zu tiefgreifenden Erschütterungen: wirtschaftliche Umbrüche, Arbeitsplatzverluste, die Entwertung biografischer Leistungen, und nicht selten die räumliche Trennung von Kindern, die in den Westen zogen. All dies wirkt im Inneren von Menschen weiter – formt ihr Selbstbild, schwächt das Vertrauen in gesellschaftliche Prozesse und erschwert die Offenheit gegenüber Wandel und Fremdem.

Wenn wir heute über gesellschaftlichen Zusammenhalt, über Resilienz und Zukunftsfähigkeit sprechen, dürfen wir diese seelischen Tiefenschichten nicht ausblenden. Denn wie soll ein Mensch anderen mit Kraft, Empathie und Zuversicht begegnen, wenn er selbst auf unsicherem innerem Fundament steht?

Wir müssen uns diesen Fragen stellen. Nicht wegschauen. Nicht schönreden. Nur wer die Vergangenheit versteht, kann Gegenwart gestalten – und eine gemeinsame Zukunft aufbauen, die von Verständnis, Würde und echtem Miteinander geprägt ist.

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