Warum die Vergangenheit nie vorbei ist 2

Warum die Vergangenheit nie vorbei ist

Heute schäme ich mich dafür, dass ich wütend wurde, wenn mir meine Mutter (die Kleine mit Zöpfen im Bild) mal wieder vom Krieg erzählte …

Als Kind konnte ich nicht damit umgehen, denn sie tat es beinah täglich. Jede Geschichte kannte ich auswendig. Jeden Moment, als die Bomben einschlugen und die Scheiben des Waggons zersplitterten, in dem sie als Zehnjährige mit ihrer Mutter hockte. Der letzte Zug, der sie aus der Gefahrenzone herausbringen konnte. Weshalb sich die Menschen am Gleis gegenseitig angriffen, um noch irgendwie mitzukommen. Ich sah das Abteil vor mir, in dem Frauen ihre toten Babys im Arm hielten, die zuvor auf dem eisigen Fußmarsch erfroren waren. Während eins der Kinder, die überlebt hatten, von seiner Mutter überredet wurde, ein Lied zu singen, um die Menschen mit den Fliegerbomben über den Köpfen vom eigenen Schmerz und Geschrei drumherum abzulenken. Und dann sang dieses Kind – mit glockenklarem, unschuldigem Sopran –, während über den Gleisen die nächsten Christbäume abgeworfen wurden und unklar blieb, ob der Zug mit den letzten zivilen Flüchtlingen jemals sein Ziel erreichen würde …

Wenn Mutter davon erzählte, war sie jedes Mal mittendrin, und erst heute verstehe ich ihren Schmerz. Diese Angst vorm Sterben – mehr noch vor dem Tod ihrer Lieben. Ihre Ohnmacht als Kind. Jene Sehnsucht nach der Heimat, die bis heute tief in ihrer Seele wütet, während neue Kriegsbilder im Fernsehen alten Wunden aufreißen. Alles ist wieder da. So, als wäre seit dem Schlimmen keine Sekunde vergangen.

Heute ist meine Mama 90 Jahre alt, und ich bin dankbar, dass ich sie noch habe. Und ich verstehe sie jetzt. Wie ich endlich auch mich selbst verstehe – als Kriegsenkelin. Lange wusste ich nicht, was mit mir los ist. Warum ich große Erfolge feiere und gleichzeitig ein Talent für Unglück habe. Meine Zähigkeit beim Leiden. Jene übertriebene Leistungsbereitschaft. Gefühle, die eigentlich nicht meine eigenen sein können, wuchs ich doch in Friedenszeiten auf. Sorglos, behütet, geliebt. Trotzdem waren da unerklärliche Ängste. Eine seltsame Vorsicht vor Nähe, Probleme zu vertrauen – was Beziehungen nun mal schwer macht. Jene Einsamkeit, die einen mitten im größten Triumph befällt – so, als würde man sich das Glück verweigern. Als hätte man es nicht verdient.

Mittlerweile weiß ich mehr über mich, meine Vorfahren, das Leben. Doch dafür hat es fast fünf Jahrzehnte gebraucht. Verrückt, wenn ich mir vorstelle, dass weltweit gerade neue Wunden geschlagen werden, die wiederum mehrere Generationen benötigen werden, um zu heilen. Und da heißt es immer, wir Menschen wären die klügsten Lebewesen auf der Welt …

Aber es gibt auch Hoffnung im Dunkeln. Dafür lohnt es sich, jeden Tag aufzustehen und darüber schreibe ich in meinem neuen Buch.

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