Dass Dinge völlig anders sein können, als sie scheinen, verstand ich das erste Mal so richtig auf den Galápagosinseln und wenn ich mich an die Galápagosinseln erinnere, denke ich immer an Lars. Der Mann war ein einziges Geheimnis. Schweizer, vierunddreißig Jahre, blond gelockt, sportlich gebaut. Am Bein hatte er eine zehn Zentimeter lange Narbe. Das Hellblau seiner Augen und die schmale Nase gaben ihm etwas Unberechenbares. Aber erst seine Lippen machten ihn wirklich verwegen. Sie waren ungewöhnlich dünn. In einem Moment konnte er damit ein offenes Lachen fabrizieren. Im nächsten Augenblick wirkte er todernst und unnahbar. Noch nie hatte ich bei jemandem so deutlich gespürt, wie untrennbar Kind und Erwachsener in einer Person leben.
Lars begrüßt mich damals als Helfer eines Expeditionskommandos auf der Insel Santa Cruz am Flughafen Baltra und wie er mir dabei in diesem lustigen Haifisch T-Shirt mit einer am Band herumbaumelnden Sonnenbrille zuwinkt, steht mein Urteil fest: Glückskind! Gleich nach unserem Hallo beginnt ein mehrwöchiges Abenteuer: Lachend im Sonnenuntergang an Bord eines Segelschiffs, ausgelassen singend im Beiboot hinüber zum Ufer, schnorchelnd oder ewig wandernd auf Vulkangestein – immer sicher geführt von seinen Ortskenntnissen und später sogar von ihm gerettet! Denn als mir kurz vor der Abreise sein Chef – ein aufgeregter, spanischer Reiseführer – versucht, mit Händen und Füßen irgendeine mittlere Katastrophe klarzumachen, übersetzt Lars sofort für mich: Demnach hätte ein Mitarbeiter des einheimischen Reiseunternehmens mein Rückflugticket zur Sicherheit an sich genommen. Dann aber leider vergessen, es bei der Fluggesellschaft in Quito bestätigen zu lassen. So allerdings sei mein Ticket nicht mehr gültig und mein Anschlussflug nach Deutschland gefährdet. Mit etwas Glück würde es eine Woche dauern, bis der Ersatz geregelt ist. Noch bevor Lars zu Ende übersetzt hat, bin ich bleich wie eine Kalkwand. Der Urlaub ist vorbei, meine Reisekasse aufgebraucht, keine Notunterkunft in Sicht und zu Hause wartet der Job. Ich sitze fest im Paradies.
Ich fühle ein warmes Brennen in den Augen, während sich der Reiseleiter, der mich in diese Sache hineingeritten hat, aus dem Staub macht. Lars lächelt schief. „Dumme Sache, oder? Komm! Heute kannst du eh nix mehr ausrichten. Es ist Wochenende und die Agency hat Montag Ruhetag. Musst Dir wohl also etwas zum Schlafen suchen, oder?“ Ich höre seine Worte und bin kurz vorm Losheulen. Da berührt er mich für einen Moment am Arm. „Willst du mitkommen? Nach Puerto Ayora? Da muss ich heute sowieso hin. Ist ein Fischerdorf auf einer der bewohnten Inseln hier. Dort hause ich, bis die nächste Tour für mich kommt. Ich fahr` mit dem Bus. Wenn du willst, überleg`s dir.“ Dann dreht er sich um und läuft los. Keine Situation zum Überlegen. Ich schnappe nach meiner Tasche und laufe ihm hinterher. Wie eins dieser drolligen, hilflosen Welpen in der Reklame.
So finde ich durch Lars eine Bleibe für die nächsten Tage; irgendwo auf der anderen Seite der Welt.
An unserem letzten Abend auf Puerto Ayora, endlich mit Aussicht auf ein Ersatzticket Richtung Deutschland, biete ich ihm ein Entgelt an. Ein Dankschön für alles, zusammen mit ein paar Abzügen unserer gemeinsamen Fotos, das ich ihm gern zusenden will, sobald ich es am nächsten Morgen tatsächlich nach Hause schaffen würde. Das Grinsen auf seinem Gesicht ist flüchtig. Fast arrogant. So, als würde er lieber erst einmal abwarten wollen, ob ich die nette Geste in meinem geborgenen Nest zu Hause nicht gleich wieder vergesse. Ich bin beschämt und schweige für wenige Sekunden. Dann frage ich nach seiner Anschrift. „Wie kamst du eigentlich aus der Schweiz hierher?“, füge ich an. Mit dieser Frage breche ich unser unausgesprochenes Abkommen, dass keiner den anderen nach seinem sonstigen Alltag fragt. Jetzt aber, kurz vor dem Abschied, bin ich doch schrecklich neugierig. Er hebt seinen Blick, senkt ihn wieder und ißt weiter. „Ach, schlußendlich ist das eine seltsame Geschichte. Früher, weißt du, war ich mal abhängig.“ Er macht eine kleine Pause. „Hasch!“ Ich habe zu tun, mich nicht an meinen Nudeln zu verschlucken und Lars ist so taktvoll, meinen weltfremden Gesichtsausdruck nicht weiter zu kommentieren. „Ich fand`s halt gut damals. Heute wär mir das Zeug zu stark. Es macht deinen Körper kaputt. Du wirst alt und träge.“ Er denkt nach. „Zu dem Zeitpunkt hatte ich eine Freundin und wir wollten was sehen, was erleben! Ich war achtzehn und meine Freundin schwanger. Einem gemeinsamen Freund von uns ging es ähnlich. Er hatte die Schnauze voll von der Schweiz und seinem Vater, einem Banker. Also wollte er das Nötige Geld für unsere Reisekasse besorgen.“ Dann erzählt mir Lars eine abstruse Geschichte. Davon, wie sein Freund das Geld aus dem Safe der Eltern klaute und von dessen erbostem Vater, der daraufhin Lars als Anstifter zur Fahndung ausschreiben ließ, anstatt das eigene Kind der Polizei zu überlassen. Irgendwann gab sein Kumpel auf und bestätigte die Version des Vaters. Wohl aus Angst vor Konsequenzen. Also wurde nur Lars gesucht und landete auf einer Irrfahrt mit seiner mittlerweile hochschwangeren Freundin in Indien. Während er mir davon erzählt, verändert sich sein Gesichtsausdruck. „Das Hasch nahm sie trotzdem weiter. Sie konnte nicht anders.“ Meine Augenbrauen wandern nach oben. „Hast du ihr nicht geholfen? Sie nicht gebeten, aufzuhören?“ Etwas kleinlauter ergänze ich: „Ich meine, in dem Zustand, wegen dem Baby?“ Lars hat meinen Einwand vorausgesehen. Eine Deutsche. Wahrscheinlich seit ihrer Kindheit in Watte gepackt. Also fällt seine Antwort kurz aus. „Sicher. Immer wieder.“ Eine Pause. „Ich meine, sie war abhängig. Versteht du?“ Wieder ein Moment Stille. „Eines Tages hatte sie tatsächlich eine Überdosis und kippte um. Ich konnte sie wiederbeleben. Zum Arzt wollte sie nicht. Sie hatte Angst.“ Lars stockt, stochert auf dem Teller herum. Dann sieht er mich unsicher an. „Ein paar Tage später trafen wir in einer billigen Absteige einen Wahrsager. Er riet mir, auf mein Mädchen aufzupassen. In der kommenden Nacht könne ein Unglück geschehen und es würde ein Feuer geben. Seine Augen funkelten so scheußlich und er hörte nicht auf, mich zu warnen. Es war unheimlich. Ein Hexer, dachte ich noch und ging.“ Lars nimmt einen langen Schluck und ich lasse ihm die Zeit. „Natürlich konnte ich in der darauffolgenden Nacht nicht schlafen. In meinem Unterbewusstsein lösten die Worte des Alten grässlicher Bilder aus. Vier Uhr morgens wurden meine Alpträume durch lautes Geschrei zerrissen und ich stürzte zum Fenster. Eine riesige Menschenmenge hatte sich vor unserem Haus versammelt und rannte aufgeregt hin und her. Die Leute fuchtelten mit den Armen und langsam begriff ich, was geschehen war. In der Nacht hatte es gewittert und einen Baum erwischt. Brennend war er auf ein parkendes Auto gestürzt und nun versuchte die Menge das Feuer zu löschen. Ich stand wie in Bronze gegossen an meinem Fenster und sah untätig zu. Erleichtert, dass diese seltsame Weissagung nur zur Hälfte eingetreten war. Der Brand vorm Haus war schnell unter Kontrolle und hier oben war nichts zu befürchten. Also schlich ich wieder ins Bett, zurück zu meiner Freundin. Sie hatte den Lärm nicht bemerkt. Gott sei Dank! Ihre Augen waren geschlossen. Vorsichtig versuchte ich sie zu wecken. Sie reagierte nicht. Ich rüttelte etwas stärker. Schrie sie an. Immer lauter. Schüttelte sie…Erst jetzt bemerkte ich, dass ihr Körper bereits kalt war.“ Lars stochert weiter auf dem Teller herum. Nach einer Weile frage ich: „Warum?“ „Ich denke“, redet er langsam weiter, „das war von der Überdosis die Tage zuvor. Sie hatte die Menge überstanden. Das Baby in ihrem Bauch aber nicht. Durch die Ohnmacht oder das Zeug selbst muss es gestorben sein. Ich vermute, eine Schwangerschaftsvergiftung oder so. Die Ärzte haben mir nie etwas Genaues gesagt.“ „Und dann?“ Lars schiebt den Teller beiseite. „Dann übernahm die Botschaft den Rest. Auch der Mutter meiner Freundin sagten sie nicht viel. Riefen lediglich an, um zu fragen, wie sie die Tochter zurückhaben will: in einer Urne oder im Sarg. Also reiste ich zurück in die Schweiz. Ich wollte es der Frau persönlich sagen. Das war ich ihr schuldig. Dann ging ich erneut fort. Die Justiz verfolgte mich sieben Jahre lang. Jetzt bin ich hier. Auf Galápagos. Mal seh`n, wie lange noch.“ Ich schlucke. „Schau nicht so, Peggy.“, tippt mich Lars an. „So ist das eben. Alles, was man über das Leben lernen kann, ist eigentlich in drei Worte zu fassen: Es geht weiter!“
Unaufhörlich muss ich diesen Mann vor mir anstarren. Aus heiterem Himmel fiel ein trauriger Clown.
Ich weiss nicht, ob ich mich ängstigen oder alles für ein perfekt ausgedachtes Märchen halten soll. Soviel Unheimliches kann einem einzigen Menschen doch gar nicht geschehen? „Vielleicht ist das Schicksal.“, redet Lars weiter, so als könne er meine Gedanken hören. „Ein ulkiges Wort: Schicksal! Irgendwer schickt uns also etwas.“ Er nickt sich selbst zu. „Ja, ich denke wirklich, das nichts auf der Welt zufällig passiert.“ Dann ein Lächeln. „Jedenfalls gibt es für alles einen Grund. Man muss nur richtig danach suchen und, glaub` mir: Man weiss nie, was man hat, bis man es verliert.“ Er sieht mich an. „Ich habe es erlebt, Peggy. Deshalb, greif dir jeden Tag! Pflück ihn wie eine Blume und so oft es geht: Spring ab und lass dir beim Fallen Flügel wachsen.“ Er beugt sich zu mir herüber und gibt mir einen Kuss. Dann stützt er sich auf dem Tisch ab, legt den Kopf in beide Hände und lässt seine Worte eine Weile nachwirken. Dabei betrachtete ich seine Augen genauer. Ja, denke ich, auch sie können zur selben Zeit traurig sein und lachen. Seinen Augen traue ich diese Geschichte zu.