Peggy Patzschke auf Terasse04

Der den Affen folgt

Manchmal ist das Leben ein Dschungel und dann ist die Frage, wie kommen wir da wieder heraus? Letztlich genauso wie aus dem echten, sobald er mit Schlingpflanzen und verlorenen Pfaden zur grünen Hölle für uns wird. Ich erinnere mich dann gern an meine Wanderung mit diesem Indianer in Ecuador. 

Es war gerade Oktober, als ich mit einer zweimotorigen Propellermaschine über den Amazonas flog. Eine halbe Stunde von Quito landete ich auf dem Dschungelflughafen Coca. Anschließend ging es mit einem einheimischen Motorboot weitere fünf Stunden in ein Regencape eingehüllt stromaufwärts, immer den Rio Napo entlang. Dabei kroch die Kälte des Wassers erbarmungslos an mir hoch. Der Steg, der irgendwann am rechten Flussufer auftauchte, führte ins Reich meines Indianers. Nur selten zeigt er Fremden seine Welt. Das, was er zum Überleben braucht, findet er hier, wie all die Generationen vor ihm. Als er mich am Folgetag zu einer Wanderung durch den Regenwald einlud, trug er die einzig wichtige Ausrüstung, die man hier braucht: Eine Machete und einen Rucksack mit Proviant. Unterwegs lehrte er mich, die Allmacht der Natur und warum wir niemals vergessen sollten, dass wir nur ein winziger Teil von ihr sind. Dabei griff er sich eine Wurzel. „Der Regenwald ernährt, heilt oder tötet uns, so wie es ihm gefällt.“ Er reckte er seinen Schatz in die Höhe. „Er ist der curandero`, der große Medizinmann, schau her!“ Dann zeigte er mir Pflanzen, die Nierensteine zerstören, Wunden schließen oder gegen Bauchkrämpfe helfen. „Kartoffel und Bananen sind gut für den Liebeszauber.“, lachte er. Auch Zitronenameisen musste ich verkosten, aus denen Indianer ihre Limonade herstellen. Bereits mehrere Stunden bewegten wir uns zu dem Zeitpunkt durch das dichte Grün. Völlig erschöpft liess ich mich auf einen Baumstumpf fallen. Dutzende Moskitos schwirrten um mich herum. Ihr Gesumm schwoll zu einem bedrohlichen Fortissimo. Todmüde wendete ich mich an den Indianer: „Wie weit ist es zurück zu unserem Boot?“ Ohne den Gesichtsausdruck zu verändern, antwortete er. „Fünf Stunden.“ Ich wurde bleich. „Zehn Stunden laufen?“, rief ich zurück. Meine Rechnung wurde nicht als Nachfrage registriert. Der Indianer ging einfach weiter. Warum fühle ich mich plötzlich so krank, hämmerte es in mir. Wenn es wenigstens eine einzige, offizielle Strecke in diesem Dickicht gäbe! Stattdessen musste jeder Weg mit der Machete freigeschlagen werden. Ich bekam Angst. Erst nachdem ich es mir selbst eingestehen konnte, spürte ich, wie die Erde unter meinen Füßen nachgab. Ich blickte an mir herab. Die Gummistiefel waren völlig dreckverkrustet und es fiel mir immer schwerer, sie vom Boden zu lösen. Als hätten wir uns telepathisch verständigt, stoppte der Indianer, griff sich ein paar dickere Äste und schnitzte mir einen Stock. Eine Krücke, die ich dringend nötig hatte; denn vor uns lag ein ausgedehntes Sumpfgebiet. Der Indianer deutete auf seine Fußspuren: „Ab jetzt tritt nur noch in meine.“ Er sah mir direkt in die Augen. „Denk daran! So besteht weniger Gefahr einzusinken. Wenn du es vergisst, kann ich dir nicht helfen.“

Das Hirn eines Menschen funktioniert schon auf seltsame Weise. Als hätte ich diesen letzten, bedrohlichen Satz nicht gehört, konzentrierte ich mich lieber auf die technischen Anweisungen. Der Rest würde mich ohnehin ins Verderben stürzen. Zwei ewige Stunden stapfte ich so vor mich hin. Nur in seine Fußabdrücke…daran denken….weniger Gefahr einzusinken. Die Worte des Indianers wurden zu meiner Gebrauchsanweisung. Die einzige, die mir durch diesen Matsch helfen konnte. Mittlerweile waren meine Stiefel vollständig im dem gefährlichen Schwarz unter mit verschwunden. Mein Regencape, meine Hose, alles an mir war von einer Haut aus Schlamm überzogen. Mit glitschigen Sohlen balancierte ich auf rutschigen Baumstämmen. Dabei hielt ich mich an jedem morschen Zweig fest, an jedem Blatt, das ich zu fassen bekam, ganz egal ob es mich überhaupt halten konnte. Mit jedem weiteren Schritt fühlte ich, wie mir die Luft knapp wurde. Ich glaubte nicht mehr daran, dass ich der Dschungelhölle entkommen und wieder auf festem Boden stehen würde. Überall nur dieses verdammte Grün! Überall Pflanzen, ein einziges grünes Gefängnis… Plötzlich träumte ich davon, wieder die Sonne zu sehen, durchzuatmen, in Sicherheit zu sein. Was, wenn auf so einem Ausflug wirklich etwas passiert? Natürlich wäre ich nicht die erste Urlauberin, die irgendwo verloren geht. Ein bedauerlicher Unfall, nichts weiter. Die Fahrt hierher war noch nicht einmal offiziell gebucht. Niemand wird mich finden. Nicht einmal beerdigen können. Auf einmal war alles eine Schnapsidee. Eine von der Sorte, die sich gut zum Angeben eignet, sobald man wieder zu Hause sitzt und Fotos vorzeigt. Während meine Gedanken kreisten, rutschte ich ab. Verlor die Fußspur meines Vordermannes, meinen Stock, meinen rechten Stiefel und versank vollends im Morast. Fieberhaft versuchte ich mein Bein wieder herauszuziehen. Aber der Stiefel blieb stecken. Ich bekam ihn nicht mehr zu fassen. Ich zog und zog, aber ich schaffte es nicht! Im Regenwald von Ecuador, irgendwo im Sumpf, stand ich nur noch in Strümpfen da und die Behausung, in der meine Tasche mit den Ausweispapieren stand, war Kilometer weit entfernt. In diesem Augenblick schossen mir Tränen in die Augen. Das warme Rinnsal lief mir über die dreckverschmierten Wangen und hinterliess eine unübersehbare Spur. Ich schämte mich. 

Als mich der Indianer so erblickte, wendete er sein Gesicht sofort wieder ab. Ohne mich direkt anzuschauen, näherte er sich, zerrte meinen Stiefel aus dem gierigen Morast und gab ihn mir zurück. Als ich nicht zufasste, beugte er sich wortlos nach unten und zog mir das schlammige Leder über die ebenso schlammigen Strümpfe. Dann legte er seine Hand für einen Moment auf meine Schulter und lief weiter. Welche Wärme diese Geste hatte, konnte ich nicht wahrnehmen. In dem Moment war ich außerstande dazu. Meine Psyche glich die eines wund geschundenen Tieres; Gefühle, die im Sekundentakt wechseln: Frust, Erschöpfung, Einsamkeit, Wut auf mich selbst. Warum bin ich überhaupt mitgegangen? Im nächsten Augenblick spürte ich Wut auf andere. Dann Todesangst. Bald wiederum wandelte sich alles in Selbstmitleid, später in Hoffnung, in einen unbeschreiblich starken Überlebenswillen. Etwas, was ich vorher gar nicht kannte und was mich erschreckte. 

Nach neun Stunden seit dem Aufbruch war ich so weit: Ich empfand Demut. Nichts weiter. So, als sei ich gezähmt. Ich fühlte mich wie ein winziges Blatt unter vielen, ein unbedeutendes Blatt an einem mächtigen Baum. Wahnsinn! So viele Gefühle musste ich erspürt haben, so viel Hass begraben, so viele Stunden mussten vergangen sein, damit ich dieses reine Gefühl, mich einem höheren Willen überlassen zu können, akzeptierte. 

Dabei gibt es nur einen Weg, dem Dschungel gewachsen zu sein: sich ihm zu beugen! 

Erst in dem Moment, als ich an nichts mehr dachte und nichts mehr fragte, erkannte ich am Ende des unheimlichen Grüns einen stecknadelgroßen Lichtpunkt. Wenige Schritte später, erreichten wir unser Boot. Willenlos ließ ich mich zurück zum Dorf rudern und erlebte kurz darauf das größte Glück auf Erden: Ich duschte, nackt im Freien. Mindestens eine Viertelstunde lang. Ein unglaublicher Tag lag hinter mir. Ein Tag voller Ängste, der mich gelehrt hatte, dass wir im Leben nur einen einzigen gefährlichen Gegner haben, gegen den wir uns behaupten müssen – den Feind in uns. „Wann auch immer du deinen Weg aus den Augen verlierst“, sagte beim Abendessen auch der Indianer zu mir „du findest ihn wieder. Vertrau dir einfach und dann hab ein wenig Geduld!“ Als ich ihn später am Feuer noch fragte, wie er ohne Wege, ohne Sonne und Kompass nach zehn Stunden im Dschungel die richtige Richtung gefunden hatte, hob er kurz die Augenbrauen, lächelte und antwortete: „Ich bin den Affen gefolgt“ 

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