Er ist Mexikaner. Und das ist auch schon alles, was ich von ihm weiss. Ich selbst nenne ihn nur den „Mann auf der Straße“. Er wohnt in einem Slum nahe San Cristóbal. Als ich ihn traf, stand er am Straßenrand vertieft in ein Gespräch mit einem Nachbarn. Dieser Mexikaner brachte mich damals ins Grübeln wie kaum einer vor ihm.
Auf der Halbinsel Jukatan bin ich zu dem Zeitpunkt seit zwei Wochen unterwegs. In einem knallroten Käfer schlucke ich zweitausend Kilometer Landstraße. Die holprigen „Toppes“ auf dem Teer durchschütteln meinen Körper und die rotbäckigen Jungs der umliegenden Dörfer sperren mir die Strecke immer wieder mit ihren Seilen ab. So kassieren sie Zollgeld. Kaum habe ich an einem neuen Tag mein Hotelzimmer bezogen, will ich noch einmal hinaus, Richtung Norden nach Chamula. Ich hatte gehört, dass dieser Ort der kleinste, aber älteste Siedlungsplatz der Yucatán-Indianer ist. Nur – weder Chamula, noch die Himmelsrichtung kann ich ausfindig machen. Nirgendwo ein Hinweisschild! Eine Dreiviertelstunde irre ich mit meinem klapprigen Käfer umher. Am Ende der Stadt, in einem Slum, verfahren ich mich endgültig. Die Hauptstraße ist nicht einmal mehr zu erahnen. Zwischen den Wellblechhütten der Einheimischen werde ich immer nervöser. Ich holpere über riesige Steine und Löcher. Schneller als fünf Kilometer pro Stunde geht hier nicht. Ich bremse, drehe die Scheibe herunter und frage einen der Mexikaner nach dem Weg. Der schaut kurz zur Seite, mustert mich mit seinen schmalen Augen und presst schließlich zwei, drei spanische Wörter hervor. Ich zucke mit den Schultern und lächle verlegen. Wieder sieht mir der Mexikaner in die Augen. Diesmal etwas länger und tiefer. Dann nickt er seinem Nachbar bedeutungsvoll zu und steigt wortlos in mein Auto. „Chamula! Chamula!“ Energisch zeigt er die Richtung an. Sein dunkles, faltiges Gesicht sorgt dafür, dass sich meine Pulsfrequenz erhöht. Bevor ich lange überlege, wohin mich der Fremde nun führt, starte ich den Wagen und fahre seinem Handzeichen nach. Die ganze Strecke über bleibt der Mann stumm. Fünfzehn Kilometer lang. Angespannt beobachtet er die Landstraße vor uns. Dabei gleicht er einer Eule, die in ihrer angestammten Baumkrone thront und den Punkt, den sie einmal fixiert, nicht mehr aus den Augen lässt. Vorsichtig mustere ich meinen Fahrgast. Er trägt einen braunen Krempenhut, eine blaue, leicht verblichene Stoffhose und ein beiges Männerblouson aus den Achtzigern. Seine Füße sind nackt. Und spätestens bei ihrem Anblick werde ich nervös. Spüre dieses Ziehen in der Magengegend. Wahrscheinlich hört man einfach zu viele Nachrichten. Vor meinem geistigen Auge sehe ich mich längst in irgendeiner finsteren Ecke liege, am Kopf blutend, um meine Brieftasche erleichtert… Ich sehe eine dünne Schlagzeile auf Seite 3 vor mir. „Deutsche Urlauberin in Südmexiko überfallen.“
Genau in dem Moment stoppt mich mein stummer Fahrgast. „Chamula!“, brummt er und zeigt auf das große Hinweisschild am Straßenrand. Noch ein paar Meter über den Berg, dort versteckt sich mein Ziel. Vorsichtig versuche ich ein Lächeln und wende mich ihm zu. Er aber steigt aus, genauso stumm, wie er vorhin meine Rückbank in Besitz nahm. Ich rufe ihm nach: „Hola!“ Keine Antwort. Vielleicht wohnt er ja hier irgendwo in der Nähe und ich konnte ihn ein Stück mitnehmen? Ein Zufall, eine Fügung? Der einzige Haken an der Sache: Weit und breit ist kein Dorf in Sicht. Kein Haus, kein Stall, nichts. Die einzigen offiziellen Orte, die in dieser Gegend existieren, sind Chamula vor mir und das fünfzehn Kilometer entfernte San Cristóbal hinter mir. Im Rückspiegel sehe ich, wie der Mexikaner die Landstraße zurückläuft. Er hatte mir schlicht und ergreifend den Weg gezeigt, und zwar auf seine Art: So sicher, dass ich mich kein weiteres Mal verfahre.
Ohne sich noch einmal umzusehen, winkt er zum Abschied und wandert in der prallen Mittagssonne nach Hause. Quer über den Asphalt. Ohne Schuhe! Fünfzehn Kilometer für den Heimweg. Einfach so. Nur wegen mir. Es dauert noch zwei, drei Minuten bis ich das kapiere und weiterfahre.
In diesem Sinne, haben Sie einen aufregenden Tag und falls Sie möchten: Verblüffen Sie mal wieder jemanden! Oft müssen wir ja gar nicht viel dazu tun. Ein Lob, verschenkte Zeit, ein Lächeln… Verrückt, wie einfach es manchmal sein kann, einen großen Eindruck zu hinterlassen und wie gut solche Überraschungen tun. Ach, und bitte schreiben Sie mir dann von Ihrem Erlebnis damit. Lassen Sie uns das Glück teilen! Schließlich vermehrt es sich dabei 🙂